Was kostet ein Menschenleben?
Seit 2023 arbeite ich gemeinsam mit dem Team von X-Traverse in der Region Kupjansk. In dieser Zeit hat sich vieles verändert – die Lage vor Ort, die Bedürfnisse der Menschen, aber auch unsere eigene Arbeit. Trotz anhaltender Angriffe und schwerer Zerstörung gibt es dort Menschen, die nicht aufgeben. Einer von ihnen ist Ruslan

Ira Ganzhorn
Referentin Humanitäre Hilfe

Im Mai 2024 war ich selbst noch in Kupjansk. Ich habe die schwer beschädigte, aber dennoch funktionierende Apotheke gesehen, die zerstörten Gebäude und die von schwerem militärischem Gerät zerfurchten Straßen.
Gemeinsam mit Ruslan von X-Traverse haben wir seine Großmutter besucht und ihr Lebensmittel vorbeigebracht. Trotz heranrückender Front und fortgeschrittenen Alters weigerte sie sich damals, ihren Heimatort zu verlassen.
Im Dezember 2025 sichte ich Foto- und Videomaterial von Kupjansk – einer Stadt, die ich nicht wiedererkenne. Ganze Straßen sind zerstört, es ist nichts mehr von der Infrastruktur übrig: kein Krankenhaus, kein Supermarkt, weder Strom noch Wasser. Und dennoch halten sich dort schätzungsweise noch über 1.000 Menschen auf.
Ruslans Großmutter ist nicht mehr in ihrer Heimatstadt. Unter großem Protest konnte er sie im Herbst 2025 zu sich nach Charkiw holen.
Im Herbst häuften sich die schlechten Neuigkeiten aus Kupjansk.
Die Front rückte immer näher, die Angriffe brachen nicht ab, eine erneute Okkupation zeichnete sich deutlich ab – und dennoch hofften wir auf ein Wunder.
Das Wunder ist nicht eingetreten. Im Dezember 2025 finden Kämpfe mitten in der Stadt statt, und es gibt fast keine Möglichkeit mehr, die zivile Bevölkerung zu evakuieren.
Unser Hauptziel ist es nun, diese fast unmöglichen, aber doch irgendwie stattfindenden lebensrettenden Evakuierungen finanziell sicherzustellen.
Fotos aus dem Archiv von X‑Traverse und Libereco







Ich sitze über Budgets, Zahlen und Spendenaufrufen. Ich rechne aus, wie viel die Evakuierung eines Menschen kostet. Ich überlege mir, welcher Tonfall der richtige ist, um unerträgliches Leid in ein erträgliches Format zu übersetzen.
Spritkosten, medizinische Versorgung, Reparaturen am Krankenwagen nach jeder Fahrt. Gehalt für Ruslan, der bei jeder Evakuierung sein Leben riskiert – obwohl er bereits Vater ist und im Herbst 2025 nochmals Vater wurde.
Wie viel ist dieses Risiko wert? In welche Zahl lässt sich sein persönlicher Einsatz, die ständige Lebensgefahr, übersetzen?
Ich sehe auch die Daten der bisher geretteten Personen. Die älteste Frau wurde 1933 geboren, sie konnte gemeinsam mit ihrem Ehemann evakuiert werden. Sie haben alles überlebt, was das 20. Jahrhundert an Widrigkeiten zu bieten hatte – und müssen nun, inmitten aktiver Kampfhandlungen, erneut fliehen und um ihr Leben fürchten.
Es ist eine einfache Rechnung: das bisher ausgegebene Geld geteilt durch die bisher geretteten Menschen.
115,56 € sind nötig, um einen Menschen aus der buchstäblichen Hölle von Kupjansk zu holen.
Mit enthalten im Preis sind die Stunden des Bangens, bis eine Nachricht von Ruslan kommt. Mit enthalten ist der Schreck darüber, dass der Krankenwagen über eine Mine fuhr und die Erleichterung zu erfahren, dass niemand verletzt wurde.
Mit enthalten ist auch die Angst um die eigenen Angehörigen, die weniger als 100 Kilometer von der aktiven Front entfernt leben und die Anstrengung, diese Angst beiseitezuschieben.
115,56 € für ein gerettetes Menschenleben klingt am Ende des Tages doch auch nach einem guten Deal.

