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Gebete im Keller

Ira Ganzgorn, Referentin für humanitäre Hilfe, kommentiert die jüngsten Angriffe in Dnipro, bei denen Wohngebäude beschädigt wurden. Sie betont die Notwendigkeit humanitärer Unterstützung für die betroffene Zivilbevölkerung.

Ira Ganzhorn

Ira Ganzhorn

Referentin Humanitäre Hilfe

Gebete im Keller

Die Drohnen kommen

Die iranischen Shahed Drohnen bzw. ihre russischen Nachbauten sind im ukrainischen Volksmund längst als „Mopeds“ bekannt. Zu hundertfach werden wir in Telegram-Kanälen über die Mopeds in der Luft informiert. Der einzige Vorteil, den dieses Kriegsgerät birgt, ist ein ganz simpler: sie sind genau so laut, wenn nicht sogar lauter als echte Mopeds.

Wer nun bei einer Drohne aber an die hübschen Urlaubsvideos denkt, hat weit gefehlt. Wir sprechen hier von Größe eines Kleinwagens und einer Zerstörungswucht, die ein Gebäude zum Einsturz bringen kann. Neuerdings werden sie mit Aerosolbomben bestückt. Diese Art von Bomben entzünden den umliegenden Sauerstoff, wodurch die Opfer ihren inneren Verletzungen erlegien. Entweder die Explosionswucht oder aber eine verbrannte Lunge werden dich hinrichten. Überraschende Aussichten im 21. Jahrhundert.

Sie können sich die Verwunderung vorstellen, als im 21. Stock das Geräusch eines sehr lauten Mopeds ertönt. Meine Leitung ist an diesem Abend besonders lang, ich habe 945km Autofahrt und einen Arbeitstag hinter mir und möchte nur noch schlafen. Meine lange Leitung wird an diesem Abend durch meine fast schon pedantische Vorbereitung kompensiert: ich treffe akribische Vorkehrungen in jeder Wohnung, die ich betrete. Meine Schuhe und Jacke liegen am Ausgang griffbereit, daneben eine Tasche mit Wasser, Wechselkleidung und meiner Notfallapotheke.
Da liege ich also mit meinem Buch und höre dieses laute Moped Geräusch. In den ersten Sekunden ignoriert mein Verstand dieses Geräusch. Ein Moped im 21. Stock passt nicht in die Situation. Unlogisch und somit nicht mein Problem. Doch dann fällt der Groschen. Das ist ein Kriegsgerät, eine ganz reale tödliche Bedrohung – ganz nah.
Barfuß im Pyjama haste ich ins Bad. Erstmal zwei Wände zwischen mich und die Außenwelt bringen, dann weitersehen. Die Telegram-Kanäle bestätigen, was ich höre: zig Drohnen sind im Luftraum der Stadt unterwegs und sie sind auf Zerstörung aus.

Die erste Explosion ist nah und laut und ich beginne mit mir selbst zu diskutieren. Sollte ich in die Tiefgarage? Werden sie vorüberfliegen und in einem anderen Stadtteil ihr Werk der Zerstörung anrichten? Sind zwei Wände genug für meine Sicherheit und wieso nur um alles in der Welt befinde ich mich im 21. Stock?
Nach der ersten Explosion sind die Mopeds zwar noch zu hören, aber in sicherer Entfernung. Dieses Zeitfenster verschafft mir die Möglichkeit, mein Telefon in einem der bodentiefen Fenster im Wohnzimmer zu platzieren und die Videoaufnahme zu beginnen.

Nun heißt es nur noch warten, auf weitere Explosionen und weitere Zerstörung. Die nächste Explosion lässt nicht lange auf sich warten und ist so nah und wuchtig, dass ich ohne weiteres Nachdenken meine Schuhe und Jacke greife und zum Fahrstuhl laufe. Dort wartet bereits eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind. Wir versuchen, uns im Stehen die Schuhe anzuziehen und uns selbst und das Kind zu beruhigen. Der Fahrstuhl kommt endlich, nun sind nur noch 21 Stockwerke zwischen den lauten Explosionen und der sicheren Tiefgarage. Der Lift füllt sich, die Wucht der Detonationen hat auch die Hartgesottensten aus ihren Wohnungen getrieben.

Im Fahrstuhl hören wir die nächste Explosion. Wir lächeln uns nervös an. „Bestimmt hat da nur jemand seine Autotür ganz laut zugeschlagen“, sagt eine der Mütter zu ihrem Kind.

Das Leben im Beton — Überleben mit anderen

Die Tiefgarage des Hauses ist schon gut gefüllt und bei früheren Angriffen wurden bereits Vorkehrungen getroffen. Manche der Wände sind bunt bemalt, an einer Ecke wurden Sitzbänke für Kinder aufgestellt. Es sind alle Altersstufen vertreten, ein neugeborenes Kind wird von seiner Großmutter getragen. Unser gemeinsamer Nenner ist nur einer: unser Nachbarland möchte uns tot sehen. Möglichst bald und möglichst viele von uns.

Fotos aus öffentlich zugänglichen Medien und von der Dnipropetrovsker Katastrophenschutzbehörde

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Mindestens sieben Hunde und 12 Kinder zähle ich. Ich fühle mich seltsam nackt, mein Telefon nimmt weiter im 21. Stock auf, ich kann mich und die langsam aufkeimende Panik nicht hinter einem Bildschirm verstecken. Mein einziger Zeitvertreib ist das Beobachten. Hunde stehen ängstlich in der Ecke, einige Katzen werden auf den Armen der Leute unruhig. Die Kinder wissen nicht, wohin mit sich. Weitere Explosionen erschüttern das Haus und die Stimmung ändert sich, die Zweifel greifen in unserer kleinen Gemeinschaft um sich. Die Erwachsenen flüstern untereinander, wollen den Kindern keine Angst machen. Doch was bringt uns das Flüstern, wenn die Explosionen ohrenbetäubend laut sind?

Was ist, wenn das Haus einstürzt? Diese Frage stellen wir uns alle und nun hat eine Frau den Mut, sie auszusprechen. Ja, was ist, wenn das Haus einstürzt? Werden wir dann unter 22. Stockwerken Beton begraben? Explosionswucht, verbrannte Lunge oder aber lebendig begraben – die Aussichten werden im Minutentakt schlechter. Die Frage lässt uns nicht los, doch wir haben keine Optionen. Wir können nicht in unsere Wohnungen, wir können nicht nach draußen, wir können nirgends hin.
Meine Kehle schnürt sich zu, Tränen brennen in meinen Augen. Ich versuche regelmäßig zu atmen, meine aufkeimende Angst einzufangen, mich daran zu erinnern, dass ich schon Schlimmeres überlebt habe.
Du magst mich heute töten können, aber meine Angst bekommst du nicht.

Das Gebet des Kindes

Zwischen den Explosionen vergehen nun mehrere Minuten, aus dem Keller können wir die Drohnen nicht mehr hören und jede neue Explosion trifft uns unvorbereitet. Das Echo des Kellers verzerrt die Geräusche, ich kann nicht einmal mehr sagen, ob da wirklich jemand sehr laut seine Autotür zugemacht hat, die Flugabwehr gegen die Drohnen feuert oder aber etwas in unserer Nähe explodiert ist.

Weitere Nachrichten machen die Runde in unserer unterirdischen Gemeinschaft. Es soll sich um einen der schwersten Angriffe seit Beginn der Invasion handeln. So viele Drohnen habe es im Luftraum der Stadt noch nie gegeben. Die Innenstadt stehe in Flammen, mehrere Wohnhäuser sind bereits getroffen worden. Tote und Verletzte unklar, die Rettungskräfte können aufgrund der anhaltenden Angriffe nicht ausrücken.

Inmitten all des Chaos setzt sich ein Junge neben mich. Er mag elf Jahre alt sein, hellblonde Haare, ein T-Shirt in Ukraine Farben. Seine Mutter und Schwester stehen ein paar Schritte entfernt, blass, stumm, müde. Auf die nächste Explosion wartend. Auch er hat kein Telefon in der Hand, wir sind beide zum Beobachten verdammt. Er sieht sich um, vielleicht zählt auch er die Anzahl der Haustiere, um sich abzulenken?

Er beobachtet das Geschehen und die Menschen, nimmt die Situation und Stimmung in sich auf. Er beobachtet die Menschen und ich beobachte ihn. Was einem Kind jetzt wohl durch den Kopf gehen mag?
Der Junge hat genug beobachtet und zieht nun seine erbarmungslose Bilanz. Nach einem letzten Blick in die Runde senkt er seinen Kopf, faltet die Hände und beginnt zu beten. Es ist ein kurzes Gebet, vervollständigt von einer raschen und flüchtigen Bekreuzigung.

Er weiß, dass wir Erwachsene ihn nicht beschützen können, weder heute noch morgen. Und so wendet er sich an die nächste Instanz. Wenn es wir nicht schaffen, dann ja vielleicht Gott.Weder Tränen noch Panik sind nun noch aufzuhalten, der Junge bringt mich aus der Fassung. Ich weine nicht aus Angst um mein eigenes Leben. Ich weine, weil ich mich nutzlos fühle. Eine Versagerin, die sich bis in alle Ewigkeit vor den Kindern des Krieges entschuldigen wird.

Ich weine, weil der Junge zu dieser Schlussfolgerung gekommen ist. Er weiß, dass wir ihn nicht beschützen können. Weder gestern noch heute, noch morgen.

Verfasst von

Ira Ganzhorn

Referentin Humanitäre Hilfe

Ira Ganzhorn ist Referentin Humanitäre Hilfe bei Libereco – und ihr Start war alles andere als gewöhnlich: Ihr Vorstellungsgespräch fiel auf den 24. Februar 2022, den Tag der russischen Vollinvasion. Geboren in Charkiw, war sie zuvor an den EU-Außengrenzen und in der politischen Bildung aktiv.

ira.ganzhorn@libereco.org